FEUILLETON-KULTURBETRIEBLICHES: Europa – ein Nachruf

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„Europa – Ein Nachruf“

Stefan Zweig und andere bezeichneten die Phase vor dem Ersten Weltkrieg als eine Art Abgesang der Kultur. Der Krieg als Urkatastrophe des 20 Jahrhunderts zerstörte Kultur, verwilderte den Entwicklungsstand der Zivilisation und schuf Gräben und Grenzen, wo Freundschaft und Miteinander ein von gleichen oder ähnlichen Interessen geleitetes Europa kennzeichnen sollten – ein Europa wie das mühsam nach dem Zweiten Weltkrieg neu angedachte gemeinsame Europa, aber mit dem Primat der Kultur, der Reisen, der gegenseitigen Besuche und des Bildungsaustausches quer durch die Klassen und Schichten der einzelnen europäischen Nationen. Insofern ist Hannes Hofbauers Buch „Europa – Ein Nachruf“ in der Rubrik Kulturbetriebliches ebenso gut aufgehoben wie in der Rubrik Zeitgeist. Womit der Nachweis erbracht wäre, dass Zeitgeist und Kultur ebenso wenig voneinander trennbar sind wie Orient und Okzident in Goethes west-östlichem Diwan. Wer Zeitgeist wie Kultur gut kennt, der wird auch hier erkennen: Europa, will es prosperieren, darf man von Kultur nicht trennen. Doch wie systematisch vollzieht der Neoliberalismus die letzten Schnitte zur Trennung des kulturellen Umfeldes von den Wurzeln Europas und zwängt den Kontinent in das Prokrustesbett der Wirtschaft.

Eine Zeitleiter mit allen Sprossen

Schon das Inhaltsverzeichnis ruft die Vorstellung einer Zeitleiter hervor, der keine einzige Sprosse fehlt. Vorgeschichte-Kultureller Untergang-Kalter Krieg und Europäische Gemeinschaften-Neoliberaler Binnenmarkt-Militarisierung sind ihre Sprossen, und auf jeder Sprosse zeigt Hofbauer auf, was man von der Sprossenblickhöhe aus von Europa sehen kann. Das Gute ist: Man kann ALLES sehen. Das Schlechte ist: Vieles liegt im ARGEN. Nacheinander beschaut der Eurobetrachter den Kontinent, die Geschichte und die politischen Strukturen, die zunehmend wirtschaftlich dominiert werden. Der erste zu den Akten gelegte Aspekt der europäischen Idee seit der Gründung der EG ist die Vorstellung und das Ideal eines Wohlfahrtsstaates, der deswegen nicht gleich das Risiko eines einerseits sozialistischen, zugleich aber auch diktatorischen Staates eingehen muss, im Namen einer guten Absicht viel Unheil anrichten zu müssen, wie es der Widerspruch im Begriff „Diktatur des Proletariats“ und seinen jeweiligen konkreten Ausprägungen im Ostblock tut. Das Unheil des Ostens an den Menschenrechten geschah aus ideologischen und revolutionären Gründen. Das Unheil des Westens an den Menschenrechten geschieht auf der Grundlage des Widerspruchs zwischen Betriebsbedingung und Geschäftsgrundlage des Kapitalismus. Die Betriebsbedingung ist das Privateigentum. Aber die Geschäftsgrundlage ist der Raub. (*) Der zweite zu den Akten gelegte Aspekt ist die noch bis zum Vorabend des Ersten Weltkrieges ungebrochene Aktivität der europäischen Friedensbewegungen der internationalen und sozialistischen Arbeiterparteien Europas. Mit der Bewilligung von Kriegskrediten hatte dann die deutsche Sozialdemokratie ihre Erbsünde begangen. Den Ruf, ein Mandantenverräter zu sein, ist sie bis 2020 noch nicht wieder losgeworden. (**)

Zwischenvergleich

Zwischen Hannes Hofbauers „Nachruf auf Europa“ und Oswald Spenglers 1917 erschienenen doppelt so viele Seiten enthaltenden Buches „Der Untergang des Abendlandes“ scheint es Gemeinsamkeiten zu geben. Beide machen ihre Untersuchungen am Ende einer Kulturepoche fest. Daraus KANN etwas Neues entstehen, wenn es Akteure gibt, die für die Neue Zeit oder die Neue Weltordnung oder welche anderen Begriffe noch dafür geprägt werden oder wurden, die Gestaltungsrolle übernehmen wollen. Beide graben mit breitem Spaten tief in die Schichten der menschlichen Vergangenheit hinein. Die Grabungen Hofbauers und Spenglers enden erst, als sie mit den Füßen in Augenhöhe vor den Sedimenten des Altertums stehen. Bei Hofbauer ist es Zeus, der Europa in Gestalt eines Stieres aus ihrem behüteten Elternhaus entführt, bei Spengler waren es die Sumerer. auf die sich die Summen aller Erkenntnisse zurückführen lassen.

Kehre um, Europa, auf den Weg der Kultur

Ausgesprochen umfangreich ist die Seitenanzahl, die Hannes Hofbauer dem strebenden Suchen der Europäischen Mächte einräumt. Diesen faustischen Charakter im Suchen Europas handelt Hofbauer auf den Seiten 27 bis 50 ab. Irgendwie scheint sich der banale Eindruck zu bestätigen, dass die Suche Europas nach sich selbst – oder seiner „neuen Rolle“ – angesichts neoliberaler Tatsachen, eingebildeter militärischer Sicherheitsgefahren, realer Bedrohungen durch Corona, durch selber erst ermöglichte Gefahren durch Umweltzerstörung und Klimawandel sowie deren Folgeerscheinungen Migration und Terrorismus durch ein ganz einfaches Fundstück erfolgreich wird: Kehre um, Europa, auf den Weg der Kultur.

*) Das ist eine genuine Einschätzung von „Das Flugblatt“.

(**) Siehe auch: „Das Seifenlied“ und den Vorwurf: „Wer hat uns verraten? – Sozialdemokraten“)

(Hannes Hofbauer, „Europa-ein Nachruf“, Promedia, Wien 2020)

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