FEUILLETON-REZENSION: „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“

FEUILLTON-REZENSION

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 Luc Boltanski, Arnaud Esquerre

Bereicherung. Eine Kritik der Ware

 „Der Kapitalismus kann nichts dafür, es ist die Ware“

Die Gesellschaft unter dem Primat der Ökonomie

In früheren Jahren, als die Presse als Medium noch in der Probierphase war, hielten Tratsch und Klatsch das Primat der Berichterstattung. Dann kam ein wenig Unerhörtes, weil es Neuentdeckungen, Sensationen und Seltenheiten gab. Das Primat der Wirtschaft in der Berichterstattung der Presse muss schleichend gekommen sein wie das Primat der Wirtschaftsinteressen in der Interessenhierarchie einer Gesellschaft. Gesellschaften bestehen aus herrschenden Klassen und tragenden Schichten sowie der schweigenden Basis, welche die Last trägt und bestenfalls ein Trinkgeld fürs Schleppen bekommt. „Kunst geht nach Geld“, sagt ein Sprichwort seit den Zeiten, da Mäzene sich der darbenden Kunst erbarmten und Teile der Kunstschöpfer mit Speis, Trank, Logis und öffentlicher Anerkennung unterstützten. Wenn der bekannteste römische Unterstützer von Künstlern nicht Lucius Maecenas geheißen hätte, gäbe es heute nicht das Wort Mäzen. Wahrscheinlich gäbe es ein anderes, denn unermesslich reiche Leute, die es sich leisten konnten, armen Künstlern ein Heim zu bieten wie streunenden Hunden oder zerzausten Katzen, deren Felle alsbald wieder zu glänzen beginnen würden. Künstler, die keine Mäzene finden, sind wie alleine lebende Menschen ohne Partner, die sich über ihren Verdruss hinaus ständig mit dem doofen Trostspruch „Jeder Topf findet einen Deckel“ trösten lassen sollen. Dies sagt ausgerechnet der Kapitalismus, den die Deckel zu den Töpfen nur insoweit interessieren, wie er die Ware Topf gewinnbringend an jemand anderen geben kann. Im Grunde ist dieses Vorgehen des Kapitalismus eine Kritik an seinem Tun, fanden die Soziologen Luc Boltanski und Arnaud Esquerre und kritisieren am Kapitalismus, das ihm alles bis in den kleinsten Zipfel der Privatheit zur Ware gerät, aus der sich Profit ziehen lässt.

 (Luc Boltansky, Arnaud Esquerre, „Bereicherung. Eine Kritk der Ware“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018)

 Alsdann ist es Zeit geworden, die an den Kapitalismus gerichteten Kritiken aus den unterschiedlichsten Gegenden des Skeptischen Reiches darzulegen. Es gibt skeptische Provinzen, welche am Kapitalismus seine neoliberale Ausprägung kritisieren, die an der Entwicklung der Finanzverwaltung zur Finanzindustrie erkennbar ist. In anderen Provinzen von Meinung und Geist des Skeptischen Reiches wird lediglich der Geiz kritisiert, der den sozialen Sektor aushungerte, weil der Begriff „Share Holder Value“ zur neuen sozialen Verantwortung von Besitz und Kapital wurde. Wenn alles Ware wird und Gewinne aus Verkäufen das eigentliche Element, welches die unter ihren Verpflichtungen gegenüber den Aktionären stöhnenden Unternehmer regelmäßig vorweisen müssen, um mit täglich frischem Kapital für die Erzeugung von Waren und Dienstleistungen belohnt zu werden, dann werden auch Kunst und Kultur zur Ware, aber im hochpreisigen Segment. Die Autoren nennen diesen Prozess der Warenwerdung des Unhandelbaren „Bereicherungsökonomie“. Nun ist es aber so, dass die Autoren in ihrem Buch Frankreich im Blick haben, aber begütigend sagen, ihre Gedankengänge träfen auch auf Deutschland zu. Es dauert, bis deutsche Leser ihre beobachtbare Bereicherungsökonomie bei der Lektüre des Buches dargestellt finden. Solange wippen sie nervös mit den Füßen und fragen sich, was das Buch soll. Denn es ist ein siebenhundertseitiger Soziologenschinken für fachlich vorgeprägte Leser. Darin besteht die Schwierigkeit der Lektüre. Das erinnert, mit Verlaub, an Olle Marx den Verquasten. Wäre der besser verstanden worden, wogegen sich aber seine Texte sperren, dann wären 1989 nicht so viele Deutsche in die offenen Arme des Kapitals gelaufen, ohne zu erkennen, dass die Hände nicht zum Streicheln, sondern zum Klauen und Würgen ausgestreckt waren.

 Wen bereichert die Bereicherungsökonomie?

Die Autoren vermitteln in ihrem Buch den Eindruck, dass der Kapitalismus gar nichts dafür kann, dass er Menschen ausbeutet, nach Profit strebt und lieber Wettbewerbsdruck erzeugt, der kaum noch Zeit und Muße für die schönen Dinge des Lebens lässt. Sie üben ausdrücklich Kritik an der Ware. Wer aber macht alles zur Ware? Wer sagt, alles ist käuflich, sogar ein Amt? Sie belegen, dass selbst die Geschichte von Städten und spezieller kulinarischer Erzeugnisse aus ihnen zur Ware werden, indem sie Stadt, Geschichte, berühmte Einwohner und einzigartige Erzeugnisse zum Kulturmanagement und Tourismusmarketing benutzt werden. Das zieht die Leute an, die Talerchen aus der Tasche und die Stirn in Falten, wenn im Interesse des Profits die Kultur zur Folkore wird, die mit den wirklichen Traditionen nichts mehr zu tun haben muss. Hat die Stadt Einnahmen, freut sich der Fiskus, und alle Beteiligten werden materiell reicher. Werden sie das auch geistig?

Alles ist käuflich, aber Vieles wird geraubt.

Vielleicht ist es ein wenig vermessen, einem Fachautor vorzuwerfen, sein Buch habe mehr Erwartungen versprochen als sich bei der Lektüre erfüllt haben. Es kann ja immer auch der beschränkte Verstand der Leser sein, die nicht allen großen Gedanken folgen konnten. Wie bei Marx dem Verquasten. Trotzdem: Warum hat die Ware Schuld? Der Kapitalismus ist doch gar nicht wirklich auf dem Handel mit Waren gegründet, sondern darauf, andere dazu zu bringen, seinen eigenen Rechnungen zu bezahlen, beispielsweise die Steuerzahler im Falle von Bankenpleiten, Investitionsruinen oder bei der deutsch-deutschen Wiedervereinigung als „vereinigungsbedingte Sonderkriminalität“. Eher ist es das Verdienst der Autoren, dass ihr Buch auch die schleichende Entwicklung von Kultur und Geschichte zur Ware darstellt. Und es kann sehr gut sein, dass die Geschichte als Ware mit der Geschichte als Faktum bestenfalls nur noch einige Berührungspunkte gemeinsam hat.

(Luc Boltansky, Arnaud Esquerre, „Bereicherung. Eine Kritik der Ware“, Suhrkamp, Frankfurt am Main 2018)

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