Vorteilswahrnehmungsgesellschaft

 Vorteilswahrnehmungsgesellschaft“

 Sichern Sie sich noch heute Ihren Vorteil“, schrie mich die Werbung an, als ich mittels Yahoo meine E-Mails lesen wollte. Ich knurrte gereizt. Denn kurz zuvor hatte eine Versicherung angerufen. „Bald kommt Unisex. Jetzt noch schnell Vorteile sichern“, hatte sie gesagt.

 Ich fragte zurück, warum ich mich gegen Unisex wehren soll. Außerdem bin ich weder Student noch Professor oder Dozent, da kommt das für mich sowieso nicht in Frage. Der Vertreter hatte aber etwas anderes gemeint. Er wollte mir verklickern, dass die bisher billigeren Versicherungstarife für Männer per Gesetz aufgehoben sind und Männer und Frauen tariflich gleichgestellt sind. „Wunderbar“, jubelte ich innerlich, „Furchtbar“, sagte der Vertreter, „stellen Sie sich das vor. Aber Sie können noch heute einen Vorteil wahrnehmen und Ihre günstigeren Tarife behalten“. Ich fragte den Vertreter, ob er Briefe schreiben kann. In dem Fall wäre es mir lieb, er würde mich schriftlich kontaktieren. Weil: Ich bin ja ein Mann. Daher kann ich mich am Telefon nicht so gut konzentrieren. Und einen akustischen Text kann man nicht noch ein zweites Mal in exakt der gleichen Ursprungsform hören. Er sagte dann, er würde schreiben, aber mein Briefkasten blieb bisher leer. Mein Kopf jedoch nicht. Der beschäftigt sich seither mit der Frage, wieso es eine Tugend sein soll, wenn man auf Wahrnehmung von Vorteilen gegenüber anderen getrimmt werden soll. Schließlich widerspricht der Vorteilsgedanke an sich doch dem Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes. Aber eben nicht dem dort ebenfalls verankerten Wettbewerbsprinzip. Wettbewerb fand ich schon immer doof, weil Wettbewerb Stress bedeutet und Zeitdruck und daher Qualität und Vielfalt mindert. Wenn alles schnell gehen muss, wird Kaffee im Restaurant nicht frisch gebrüht, sondern aus aufgewärmten Resten erneuert. Ist nicht immer und überall so, aber ich hab es neulich ein einziges Mal beobachtet. Ich war schockiert, kann ich Ihnen sagen, wo ich doch gerne ein bis zwei Tässchen Kaffee genieße, wenn er schon mal bei Übernachtungen mit Frühstück bereits bezahlt ist. Zum Glück hab ich den Vorteil, beim Frühstück in Hotels immer einer der ersten zu sein, so das ich mit hoher Wahrscheinlichkeit noch den frisch gekochten Kaffee bekomme.

Vorteile wahrnehmen. Hm. Klingt nach Chancen nutzen, wenn sie sich bieten. Aber was ist eine Chance? Ein Baumstamm im Hochwasser, an dem ich mich festhalten kann, um nicht zu ertrinken, wenn ich ins Wasser gefallen bin, oder ein Seil oder Ast, an dem ich mich aus dem Morast ziehen kann, wenn ich im Schiet stecke, so etwas ist eine Chance. Aber ein Vorteil? Der hat immer für einen anderen einen Nachteil. Ich hab das mal beim Segeln gesehen. Da lauerten sie bei einer Regatta darauf, sich möglichst in Luv von dem andern zu halten, damit der andere keinen Wind in den Segeln hätte, seine Fahrt sich verlangsame und man selbst als erster durchs Ziel ginge und das Blaue Band gewönne. Das hätte alles nichts mit Können zu tun, sondern mit der Wahrnehmung eines Vorteils. Oder bei Baumärkten und Autohäusern. In deren Werbung kommt immer wieder das Wort „Preisvorteil“ vor. Man hat also preislich einen Vorteil. Schön, schön. Aber will man nicht lieber Qualität haben? Qualität braucht keinen Vorteil. Sie ist es ja bereits. Wieso eigentlich soll die Gesellschaft auf eine Vorteilswahrnehmungsgesellschaft getrimmt werden? Vorteilswahrnehmung bedeutet, wenn zwei Menschen um den gleichen Job oder Lohn rangeln, dass sie auf Schwächen des andern lauern und diese Schwächen sofort ausnutzen. In meiner Kindheit gab es noch so etwas wie Selbstlosigkeit, wo man den andern auf seine Fehler diskret aufmerksam machte. Man könnte auch Fairness dazu sagen. Vorteilswahrnehmung ist unfair. Ich glaube fast, Vorteilswahrnehmung hat mit Übervorteilung zu tun, was man getrost umgangsprachlich als betrugsähnliche Handlung betrachten kann.

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