Frontalklage

Hannes Nagel

Mittwoch, 12.9.2012

Frontalklage

Wenn ein Gericht eine Klage in sein Arbeitspensum aufgenommen hat, darf man davon ausgehen, dass die Klage auch Aussicht auf Erfolg hat. Darum durfte man zurecht gespannt sein, was aus der Frontalklage von Stefan Pudritzki wurde.

Im Landessozialgericht Celle herrschte Mittwoch, dem 12. September reger Betrieb. Die Richter hatten alle einen Fall, insgesamt etwa 15. Stefan Pudritzkis Fall war also nur einer von mehreren. In ihm trifft die Leidensfront der Sozialhilfeempfänger auf die Kaltfront der Sozialämter. Der Kläger wollte den Nachweis, dass die Praxis des Sozialgesetzbuches Teil II – vulgo Hartz-Vier-Strafrecht – die Hälfte aller Grundrechte verletzt. Den ersten Klageruf wies das Sozialgericht Hildesheim ab. Dagegen legte der Kläger Berufung ein. Das Landessozialgericht Hildesheim hatte trotz voller Termine Verständnis und nahm die Klage an.

 Für die Armen in Deutschland ist diese Klage wesentlich wichtiger als die ebenfalls heute stattfindende Verfassungsklage über Rettungsfonds für Banken und Staaten, denen gerade die Pleite droht. Stichwort ESM, Europäischer Stabilitätsmechanismus. Beide Entscheidungen haben nichts miteinander zu tun, aber sie hängen zusammen wie Reichtum und Armut. Von diesen beiden gibt es den einen Teil nur, weil es den anderen gibt.

 Nach meiner eigenen Einschätzung ist meine Klage ein Frontalangriff auf das SGB II, da ich die Hälfte aller Grundrechte verletzt sehe. Als eine für die Gesellschaft mir günstig erscheinende Alternative schlage ich in diesem Verfahren die Einführung eines bedingungslosen Grundeinkommens mindestens in Höhe der Relativen Armutsgrenze vor“, verbreitete der Kläger in der letzten Augustwoche über die Interessengruppe „Gegen Ämterschikane“.

Armut liegt nach politischen, juristischen und sozialwissenschaftlichen Ansichten vor, wenn das verfügbare Einkommen eines Menschen NICHT ausreicht, um aus eigener Kraft, also unabhängig und frei von Behörden sein Leben zu erhalten. Hartz-Vier-Opfer sind in fast allen Lebensfragen vom Wohlwollen der Sozialbehörde abhängig: Kosten für Unterkunft, Krankenkasse, Essen und Trinken. Über die Höhe des Regelsatzes kontrolliert die Behörde bis ins Detail die Lebensqualität der Betroffenen: Ist die Miete zu hoch aus Sicht des Amtes, muss der Betroffene umziehen, hat der Betroffene Schulden, darf er sie nicht abzahlen, weil der Regelsatz eine so genannte „Zweckgebundene Leistung“ ist, die nur für Miete, Versicherungen, Essen, Trinken, Fahrten zum Amt und zurück sowie für Bewerbungen eingesetzt werden darf. Bewerbungen auf die vielen freien Stellen des Arbeitsmarktes sind deshalb besonders wichtig, damit der Hartz-Vierer wieder ein nützliches Mitglied der Gesellschaft wird. (Verzeihen Sie mir den Zynismus. Aber er ist Zweckgebunden). Auf Kultur, Bildung, soziale Kontakte sowie Urlaub sollen Hartz-Vier-Opfer keinen Anspruch haben, wenn es nach den Vorgängen in der gesellschaftlichen Realität des SGB II geht.

 Die Relative Armutsgrenze bedeutet auch noch keinen Wohlstand, aber ein Einkommen in Höhe von 60 Prozent des kleinsten Einkommens, welches menschenwürdiges und amtsunabhängiges Leben garantiert.

 Übrigens: Den Rettungsfond für die Banken hat Karlsruhe unter Auflagen erlaubt. Die soziale Kälte hingegen gilt als zumutbare Belastung. Begründung: Weil es derzeit gar kein Gesetz gibt, welches ein bedingungsloses Grundeinkommen regelt, kann auch kein Anspruch auf die gewünschte Leistung angemeldet werden.

 

 

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